Die Rettung verlorener Schätze braucht Experten, die einen Verlust überhaupt bemerken. Ohne dieses Gespür wäre unsere Kultur längst verloren. Das Giebelornament auf der „Villa Landrat Winzer“ in Baden-Baden fehlte jahrzehntelang, weil das Original von 1899 vor vielen Jahren einfach abmontiert worden war, ohne dass es ersetzt wurde. Blechnermeister Thomas Steinel hat diesen Verlust wahrgenommen und das Ornament rekonstruiert. Der Geschäftsführer des Blechnerfachbetriebes zählt zu den Experten, die den vernachlässigten Zustand der Villa durch eine denkmalgerechte Sanierung beendeten.
Sonderanfertigung über vier Meter hoch
Eine erstklassige Lage im begrünten Villenviertel garantiert noch lange keinen Schutz vor dem Verfall. Auch nicht im bekannten Badeort, dessen Thermen schon bei römischen Kaisern beliebt waren und seit der Antike ausgebaut wurden. Im Gegenteil: Nach der Demontage des Ornaments hatten unsachgemäße Umbauten und vier Jahre Leerstand dem Zustand der Villa arg zugesetzt. Der Fachbetrieb für Metalldächer, Blechner- und Fassadenarbeiten orientierte sich bei der Wiederherstellung an Zeichnungen und historischen Fotoaufnahmen, die den früheren Zustand des Wohnhauses dokumentierten. Geschäftsführer Thomas Steinel: „Aus Gründen des Denkmalschutzes kam einzig walzblankes Kupfer für die Sonderanfertigung infrage, weil das Original vor 121 Jahren auch aus dem Werkstoff bestand. Vor dem Projektbeginn habe ich einen Entwurf gezeichnet. Die einzigen Unterschiede zwischen meiner Zeichnung und dem Giebelornament sind das Muschelornament im Radiusprofil und die Zierelemente der Wetterfahne. Statt der Jahreszahl wünschte sich der Bauherr ein Löwenornament. Alle anderen Details haben wir so ausgeführt, wie ich sie gezeichnet hatte.“ Die Fertigung der relativ großen, dreidimensionalen Konstruktion aus flachen Kupfertafeln verlangte dem Blechner-Team hohe Handwerkskunst ab. Das Meisterwerk misst in der Baubreite ca. 2,50 m und in der Höhe (ohne Bekrönung) rund 2,20 m, während die Tiefe etwa 400 mm beträgt. Gefertigt wurde zudem eine gut 2,30 m hohe Bekrönung, die aus gedrückten Halbschalen, Zierblüten sowie der Wetterfahne mit Spitze besteht. In der Summe messen das Giebelornament und die Bekrönung gut 4,50 m! „Die Spitze, das Löwenornament und die Kugelschalen der Wetterfahne wurden vergoldet. Wir beauftragten einen Partnerbetrieb mit der Arbeit. Nur die Kupferoberfläche der Zierblumen beließen wir im walzblanken Zustand“, fügt der Firmenchef hinzu.
Einheit zwischen Fassade und Ornament
Beim Projekt kamen viele Techniken des Blechnerhandwerks mustergültig zum Einsatz, vom Schneiden und Biegen über das Drücken und Prägen bis hin zum Löten. „Nach der Planung haben wir die meisten Bauteile bei uns in der Werkstatt abgelängt, geformt und zusammengefügt. Die Drückteile für alle Kugeln und das obere Radius-Gesimsprofil haben wir in der Spezialwerkstatt des Handelshauses Kaufmann in Neu-Ulm erworben“, so der Inhaber des Fachbetriebs, der in Baden-Baden Stehfalzdächer ausführt, historische Türme eindeckt und Zierelemente originalgetreu nachbildet. Die Profis fertigten ein kastenförmiges Hauptornament mit einer kreisrunden Durchdringung in zentraler Position. Diese präzise gewölbten Kupferprofile werden durch eine Kugel betont, die das Team aus den gedrückten Halbschalen zusammensetzte und auch vergolden ließ. Das Symbol der Sonne wurde mit filigranen Metallstäben in der Mitte des Ornaments befestigt. Zwei Halbschalen zieren das Ornament auf der linken und rechten Seite. Ein breiter gekanteter Wulst komplettiert das Hauptornament im unteren Bereich. Das Radiusprofil mit dem Gesimskranz und dem Muschelornament auf der Oberfläche bildet den oberen Abschluss des Giebelornaments. Thomas Steinel erzielt mit dem Bau von zwei bogenförmigen Seitenornamenten einen bemerkenswerten Effekt: Zwischen den Kupferarbeiten und dem Sandsteingiebel entsteht eine sichtbare Einheit, indem die geschwungenen Bögen die geneigten Linien des Ortgangs aufgreifen und sie im Ornament zu einem Endpunkt zusammenführen.
Dachgauben instand gesetzt
„Das Ornament, das wir Mitte April fertiggestellt hatten, wurde in einem Stück von unserem Firmengelände zur Baustelle transportiert und mit einem Kran auf den Giebel gehoben“, verrät der erfahrene Handwerksmeister. Die Oberfläche des Kupfers, die durch die Bewitterung eine natürliche dunkle Patina ausgebildet hat, erzeugt mittlerweile einen starken Kontrast zu den vergoldeten Kugeln im Ornament und auf der Bekrönung. Die Rekonstruktion mit ihrem Detailreichtum ersetzt das Original perfekt und entspricht dem repräsentativen Charakter der Villa. Die Architektur spiegelt den großbürgerlichen Anspruch ihrer früheren Bewohner wider, für die das Wohnhaus zur Jahrhundertwende errichtet wurde. Das Gebäude entsprach von Anfang an dem noblen Ruf der Stadt, die als Reiseziel bis heute gut situierte Gäste aus aller Welt anlockt. Vor allem die oberen Zehntausend ließen sich früher in den Heilthermen verwöhnen.
„An der Villa haben wir auch alle anderen Kupferarbeiten ausgeführt. Das etwa 85 m² große Leistendach wurde von uns neu eingedeckt und wir bekleideten insgesamt elf Gauben. Das Dach und die Bekleidung befestigten wir auf einer belüfteten Holzunterkonstruktion“, unterstreicht der Geschäftsführer. Das Steinel-Team montierte gefalzte Kupferprofile für die Bedachung und komplettierte jede Gaube mit einer neuen Bekrönung, die aus zwei gedrückten Halbkugeln und einer Spitze besteht. Darüber hinaus entfernten die Handwerker sämtliche Regenrinnen aus Aluminium und Stahl, die im Laufe der Jahre unsachgemäß am Gebäude verbaut worden waren. Nach Vorgabe des Denkmalschutzes montierten die Klempner ein Entwässerungssystem aus Kupfer, das den Rinnen entspricht, die ursprünglich installiert waren.
Villa grundlegend saniert
Drei Mitarbeiter des Fachbetriebs, Antonino Rao, Paul Hottmann und Nico Burkart, waren in der Fertigung und auf Montage am Projekt beteiligt, das im Frühjahr startete und Mitte September fertiggestellt war. Während der Sanierung, an der zahlreiche weitere Gewerke mitarbeiteten, wurden auch die Fassade und die Schiefereindeckung des Mansardendaches instand gesetzt sowie ein ursprünglich vorhandener Dachgarten wieder hergerichtet. Thomas Steinel: „Am Mansardendach erneuerten wir die Gratabdeckungen aus Kupfer. Außerdem montierten wir neue Gesimsprofile unter dem Leistendach, die wir mit Be- und Entlüftungskonstruktion ausführten.“ Dieses anspruchsvolle Mansardendach mit dem Dachgarten und mit Giebelverzierungen in Form von Fialen ist ebenfalls ein Ausdruck der repräsentativen Architektur. Über die schmalen, flaschenförmigen Türmchen, die unterhalb des Ornaments auf den Ecken des Giebels stehen, freut sich der Klempnermeister besonders: „Die beiden schlanken Fialen haben wir auch komplett bei uns in der Werkstatt hergestellt. Die Stärke des Kupfers beträgt 1 mm und die Nähte sind geschweißt.“
Great Spas of Europe
Die „Villa Landrat Winzer“ in der Quettigstraße im Westen von Baden-Baden gehört zu einer Auswahl von sieben Bauwerken, die das „European Heritage Project“ eigens zur denkmalgerechten Sanierung erwarb. Die Organisation unter Federführung von Prof. Dr. Peter Löw ließ diese Gebäude instand setzen, um das architektonische Erbe der Stadt zu bewahren. Mit dieser Arbeit unterstützt das „European Heritage Project“ die Stadt bei ihrer Bewerbung um eine Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO als einer der „Großen Badekurorte Europas“ (Great Spas of Europe). Die gemeinsame Bewerbung mit zehn weiteren renommierten Kurbädern dient dazu, die historisch einmalige Bäderarchitektur im Falle einer Anerkennung besser erhalten zu können. Der UNESCO-Titel soll insbesondere der Nachverdichtung der Städte und einer Parzellierung des historischen Baugrunds entgegenwirken. Während das Projekt das wertvolle Erbe der mondänen Stadt gerettet hat, gibt das Kupferornament der Villa wieder ihre ursprüngliche Vollkommenheit zurück.
https://europeanheritageproject.com
Bautafel
Projekt: Rekonstruktion des Giebelornaments und Erneuerung des Leistendachs sowie der Gaubenbekleidungen für die „Villa Landrat Winzer“ in Baden-Baden (BW)
Bauherr: The European Heritage Project, Wien
Architektur: Architekturbüro bauArt2 Vanessa England, Bühl
Fachbetrieb: Thomas Steinel GmbH, Baden-Baden
Material: Kupfer walzblank, 0,7 mm und 1,0 mm