Aufgrund des stetig zunehmenden und überall abrufbaren Angebots digitaler Informationen greifen Auszubildende und Mitarbeitende unverhältnismäßig oft zum Smartphone. Was ist dabei noch normal und wann kann von potenzieller Suchtgefahr gesprochen werden? Antworten gibt Mediensuchtexperte Lars Kiefer:
Herr Kiefer, das Smartphone ist ein ständiger Begleiter für Jugendliche. Wie lernen sie einen verantwortungsvollen Umgang damit?
Lars Kiefer: Dass Jugendliche den richtigen Umgang mit neuen Medien lernen, liegt in unterschiedlichen Händen. Eltern sollten zu Hause über Regeln sprechen, sie gemeinsam für die Familie aufstellen und dann auch selbst einhalten. Nur wenn ich selbst ein gutes Vorbild bin, kann ich das Thema glaubhaft vermitteln. Wenn ich als Elternteil selbst immer mit dem Handy beim Essen sitze und ständig abgelenkt bin, dann ist das wenig glaubwürdig. Junge Menschen brauchen Rahmenbedingungen. Da kommen dann auch Schulen und Ausbildungsbetriebe ins Spiel. Jugendliche probieren aus, wie weit sie gehen können.
Warum braucht ein Betrieb Regeln für die Mediennutzung?
Wenn es in meinem Ausbildungsbetrieb keine Regeln zur Handynutzung gibt, versuche ich erst einmal alles, was geht, und warte ab, wann es Konsequenzen gibt. Wenn niemand einschreitet, dann machen sich die Auswirkungen in schlechten Noten an der Berufsschule oder sogar Unfällen bemerkbar, weil ich bei der Arbeit abgelenkt war. Deswegen braucht es gleich zu Beginn klare Regeln, die schriftlich fixiert werden. In welchen Situationen ist das Handy absolut verboten, wo ist Gefahrenpotenzial und was ist okay? Auch bei Kunden macht es keinen guten Eindruck, wenn der Azubi ständig am Smartphone klebt.
Was kann ein Betrieb noch tun?
Im betrieblichen Kontext haben Vorgesetzte eine Vorbildfunktion. Die Regeln müssen folglich für alle Gültigkeit haben. Pflegen Sie das soziale Miteinander und bieten Sie etwa gemeinsame Pausen an. Die Kontakte geben den Auszubildenden Bestätigung und Halt. Und Ausbildungsleiter erfahren im Austausch, was ihre Lehrlinge beschäftigt.
Wie erkennen Verantwortliche eine Mediensucht?
Wir sprechen von einem problematischen Substanzgebrauch. Der Begriff Sucht hemmt Menschen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Niemand möchte süchtig genannt werden. Wer einen problematischen Konsum mit Medien oder Alkohol hat, ist eher bereit, darüber zu sprechen und Lösungswege zu überlegen. Aber es ist nicht Aufgabe von Führungskräften, Diagnosen zu stellen. Als problematisch bezeichnen wir Medienkonsum, wenn der Betroffene durch sein Verhalten geschädigt wird, er zum Beispiel das Berufsschulziel nicht erreicht. Das Zweite ist ein Kontrollverlust. Der Betroffene schafft es nicht, sein Verhalten zu ändern. Als Drittes gibt er zugunsten der Medien andere Aktivitäten auf. Wenn diese drei Kriterien innerhalb von sechs Monaten dauerhaft auftreten, dann spricht man von einer Abhängigkeit von Onlinespielen. Das lässt sich auch auf das Verhalten in den sozialen Medien übertragen.
Was machen die Abhängigen an ihrem Handy?
Das ist vom Geschlecht abhängig. Männliche Jugendliche spielen eher. Mädchen sind eher auf den vielen Social-Media-Kanälen, wie Instagram und Tiktok, unterwegs. Allerdings meist nur, um zu schauen. 99 Prozent konsumieren nur die Inhalte und tragen nicht aktiv etwas bei. Ebenso gibt es das Binge-Watching, bei dem über Streaming-Dienste Serien ohne Unterbrechung geschaut werden. So vernachlässigen auch viele ihren Schlaf und werden müde und unkonzentriert.
Wie kann ein Fachbetrieb unterstützen, wenn etwas auffällt? Wie werden Betroffene mit ins Boot geholt?
Wenn es kein Fehlverhalten gibt, können Sie nur Angebote machen. Fragen Sie den Mitarbeitenden nach seinen Zielen. Was ist dir wichtig? Möchtest du wissen, was in den sozialen Medien passiert, oder erfolgreich deine Ausbildung abschließen? Der Arbeitgeber muss es ansprechen, wenn der Arbeitnehmer seine Pflichten nicht mehr erfüllt, die Arbeitsqualität leidet, sich die Fehlzeiten häufen oder die Arbeitsmoral nachlässt. Damit es nicht so weit kommt, ist es gut, vorzeitig Regelungen zu finden. Wenn Sie Probleme bemerken, führen Sie ein Vier-Augen-Gespräch. „Ich habe das Gefühl, dir geht es nicht gut. Du bist unkonzentriert. Was ist denn los?“ Stellen Sie offene Fragen. „Ich habe beobachtet, dass du oft am Handy bist. Wie kann ich dir helfen?“ Sie können eine Beratungsstelle empfehlen und klare Regelungen einfordern.
Gibt es Tricks, den Medienkonsum zu reduzieren?
Es geht nicht darum, komplett auf digitale Medien zu verzichten. Man kann seinen Medienkonsum nicht auf null reduzieren. Es geht um eine vernünftige Balance zwischen der Mediennutzung und dem richtigen Leben. Betroffene können das Handy einfach in einem anderem Raum lassen und versuchen, das auszuhalten. Es hilft auch, Smartphone-freie Zonen zu schaffen. Im Büro und auch zu Hause. Essenszeiten sollten Gemeinschaftszeiten mit der Familie oder dem Partner sein – ohne Handy.
Wer sucht bei Ihnen Rat? Eltern, Betroffene oder Ausbilder?
Wir hatten im vergangenen Jahr etwa 60 Menschen mit Medienproblematik bei uns in der Beratungsstelle hier in Singen. Die Hilfesuchenden kamen meist aus dem familiären Umfeld. Eltern kommen auch direkt mit ihren Kindern. Mit wenigen Gesprächen konnten wir schon eine Verbesserung erreichen. Unsere Beratung setzt möglichst früh an, nicht wenn das Verhalten schon problematisch ist. Wenn Betroffene und Angehörige sehen, es ist eine Belastung, dann geben wir in der Suchtstelle kostenlose Unterstützung. Wir unterliegen natürlich auch der Schweigepflicht.
Darf der Vorgesetzte im Betrieb das Handy einfach wegnehmen?
Das ist eine rechtliche Frage, die ich nicht beantworten kann. Allerdings ist das Handy für viele Menschen sehr wichtig. Sie haben dazu eine sehr emotionale Bindung. Es ist immer da – auch bei schlechten Gefühlen. Es lenkt mich ab und ich fühle mich besser, wenn ich bestimmte Dinge konsumiere. Das Gerät ist wie ein Tagebuch mit Bildern, Nachrichten und persönlichen Kontakten. Mit Einfach-Wegnehmen erreicht man kein Ergebnis, das die Beziehung verbessert oder das Verhalten ändert. Das muss man erklären. „Mein Bedürfnis ist, dass du hier sicher arbeitest, und ich wünsche mir, dass du dafür das Handy auf die Seite legst. Versuch, mir zu zeigen, dass du es kannst.“
Wieso macht Computerspielen süchtig?
Durch die Interaktion im Internet, ob beim Spielen oder in den sozialen Medien, können positive Gefühle aktiviert werden. Da bekommt jemand die Anerkennung, die er braucht und im realen Leben nicht bekommt. Bei Onlinespielen gibt es eine große Vielfalt an Charakteren. Die Spieler können in eine andere Persönlichkeit schlüpfen, größer und stärker sein als im echten Leben, Führungsrollen einnehmen. Oder sich mit Geld noch besondere Fähigkeiten kaufen. Man weiß aber auch, dass Menschen, die viel Computer spielen, gut im logischen Denken sind, eine schnelle Reaktionsfähigkeit haben und eine gute motorische Fingerfertigkeit. Das bietet auch Chancen für die Arbeitswelt.