Am Südhang der Berner Alpen, 2100 m über dem Meeresspiegel, thront die imposante Villa Cassel. Sie wurde im Auftrag des finanzkräftigen deutsch-englischen Bankiers Sir Ernest Cassel aus London errichtet und von ihm bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Sommerresidenz genutzt. Zahlreiche Gäste aus Politik und Wirtschaft zählten zu seinen Gästen, darunter der junge Winston Churchill. Nach dem Tod von Sir Cassel im Jahr 1921 erbte seine Enkelin Edwina Ashley (spätere Vizekönigin von Indien) das Anwesen und verkaufte es drei Jahre später an die Hoteliers Familie Cathrein. Diese gab den Hotelbetrieb 1969 auf, worauf der Zerfall der Villa einsetzte.
Im Jahr 1973 erwarb der damalige Schweizerische Bund für Naturschutz, die heutige Pro Natura, die historische Villa samt Nebengebäude und Grundstück. Nach der umfassenden Sanierung öffnete auf der Riederfurka im Juli 1976 das erste Naturschutzzentrum der Schweiz seine Pforten: das „Pro Natura Zentrum Aletsch“. Es ist eines von zwei nationalen Zentren der Pro Natura und widmet sich der Umweltbildung. Es ist der Ausgangspunkt für Exkursionen und bietet Ausstellungen, Veranstaltungen, Seminare, Erlebnisangebote sowie Übernachtungsmöglichkeiten für 60 Personen an.
Aufwendige Renovierung
Die Villa Cassel wurde im Sommer 2019 renoviert. Der Umbau umfasste unter anderem die energetische Sanierung mit dem Ziel, das Zentrum ab 2020 CO₂-neutral zu betreiben. Die installierte Luft-Wasser-Wärmepumpe erfüllt die Zielsetzungen am besten. Für deren Betrieb wurde die Photovoltaikanlage extern auf anderen Dächern installiert, da das Gebäude selbst unter Denkmalschutz steht. Das Zentrum ist nur im Sommer geöffnet, da eine CO2-Neutralität mit dem Winterbetrieb nicht erreicht werden kann. Aus Spenglersicht war der wichtigste Projektteil die Gesamtsanierung des 45-jährigen Daches.
Neuer Hut für die alte Lady
Das gesamte Kupferdachgefüge aus 38 Teilflächen besteht aus 600 m² Doppelstehfalzdach, neun markanten Gauben mit Turmspitzen, einem Kegelturm mit ca. 10 m² Fläche und einem Pyramidenturm mit ca. 65 m² Fläche. Die Auflage der kantonalen Denkmalpflege war es, das Dach wieder mit dem gleichen Material zu decken. Das Kupfer passt dabei optisch sehr gut zur Gebäudearchitektur und zur wildromantischen Umgebung. Für das Doppelstehfalzdach und für die Dachrinnen, Anschlussbleche und die Türme wurden insgesamt 7,5 t Material verarbeitet.
Schlüsseldetails bei Dachübergängen
Die Villa Cassel befindet sich inmitten der Alpen. Die schneereiche alpine Lage und die komplexe Dachgeometrie stellten den ausführenden Fachbetrieb vor einige Herausforderungen. Auf das Doppelstehfalzdach wirken enorme Schubkräfte, starke Windlasten und große Temperaturschwankungen. Auch die Durchbiegung des Dachstuhls infolge schwerer Schneelasten und die bedeutenden Gebäudeabmessungen durften keineswegs vernachlässigt werden. Höchste Priorität bestand darin, die Übergänge zwischen den einzelnen Dachflächen voneinander abzukoppeln, damit die Kupferbahnen eine temperaturbedingte Längenänderung schadlos und ungehindert aufnehmen können.
Die Höhenlage– ein Sonderfall
Die Schweizer Fachnormen haben Gültigkeit bei Gebäuden bis 2000 m Meereshöhe. Das Gebäude der Villa Cassel liegt mit 2100 m über dem Meeresspiegel klar darüber. Derartige Metalldächer sind Sonderfälle und als solche speziell umzusetzen. Nach Abklärungen mit Architekten und Bauherren wurde beschlossen, auf ein Schneefangsystem zu verzichten.
Da das Gebäude im Winter geschlossen ist, stellen Dachlawinen in diesem Einzelfall keine Gefährdung dar. Der Verzicht auf den Schneefang und somit das freie Abrutschen von Schneemassen führte zu
einigen Vorteilen. So wird die Dachkonstruktion statisch viel weniger belastet, die Schubkräfte am Metalldach werden gemindert, es erfolgen keine Falzverformungen durch Schneefanglaschen, und die Blechscharen konnten im Achsenmaß etwas breiter realisiert werden.
Der Kegelturm
Wer meint, Dacheindeckungen mit Metallschindeln seien eine neuere Erscheinung, irrt sich. Als Ersatz zu Holzschindeln wurden schon früh Metallschindeln in Form von Einzelschindeln und Schindelbändern verwendet. Auf dem Kegelturm der Villa Cassel sind circa 1300 präzise gestanzte, geprägte Einzelschindeln aus blankem 0,6 mm dicken Kupfer montiert. Um der Verjüngung nach oben optisch Rechnung zu tragen, ist der Turm in drei verschiedenen Schindelbreiten bedeckt.
Die zweifache Überdeckung ermöglichte es, die Schindeln sauber an den Grundkörper anzupassen. Als Trennlage unter der Schindeleindeckung wurde eine Unterdeckbahn verlegt, die gleichzeitig als Bauzeitabdichtung diente. Die Turmfläche wurde in circa 18 Stunden gedeckt Um der Verjüngung nach oben optisch Rechnung zu tragen, wurde der Turmfuß mit konischen Doppelstehfalzbahnen ausgeführt.
Der Pyramidenturm
Der imposante Pyramidenturm konnte aufgrund seiner Form mit Bandmaterial ausgeführt werden. Dabei wurden Schindelbänder vom Typ Turris RG/18 Rundschnitt-Großformat eingesetzt. Die Länge der Streifen beträgt 1 m; für die Fläche von 1 m² braucht es 18 Streifen. Diese sind ebenfalls aus Kupferblech 0,60 mm gefertigt. Für die Eindeckung des 65 m² großen Turmes wurden 1100 Schindelbänder verwendet. Die Sichtbreite der Rundschnittschindeln beträgt 80 mm. Der zeitliche Aufwand für das Einteilen und das Eindecken betrug 240 h, inkl. Gratabdeckung, ohne Turmfuß. Die Schindelbänder sind seitlich an die speziell gefertigte Gratleiste aufgestellt. Als Gratabschluss wurde ein filigranes Blechprofil montiert und sturmsicher befestigt.
Wettbewerbsobjekt
Das Projekt wurde erfolgreich bei dem VDSS-Wettbewerb „Goldene Spenglerarbeit“ eingereicht. Die Jury war dabei auch aufgrund der besonderen Ausgangslage von diesem Objekt sehr angetan. Das Resultat überzeugt: Auf diesem Gebäude sind alle Spengler-Dachtechniken meisterlich eingesetzt worden. Die Ausführung des Kegelturmes mit kleiner werdenden Schindeln ist optisch ansprechend gelöst und fachlich perfekt umgesetzt. Das Gesamtbild von Dach und Fassade vor der Bergkulisse wirkt je nach Blickwinkel und Stimmung als Märchenhaus oder als opulentes Bauwerk. Auch der logistische Aufwand des Projektes wurde besonders gewürdigt.
Tipp aus der BAUMETALL-Redaktion: Ein Ausflug zu der klassischen Kupferikone lohnt sich auf jeden Fall.
Bautafel
Projekt: Villa Cassel, 3987 Riederalp, Schweiz
Architektur: Innarch Ruppen, Brig, Schweiz
Fachbetrieb: G. Bosshard AG; Altdorf, Schweiz
Werkstoff: Kupfer walzblank 0,6 mm
Dach: Belüftete Metalldeckung, Hauptdach als Doppelstehfalzdach, Türme mit Einzel- und Schindelstreifen