Wittlage, 29. Juni 1903 –
Ein furchtbares Unwetter hat hier heute Nachmittag gehaust. Gegen Drei Uhr kündigte es sich schon dadurch an, dass es unheimlich dunkel wurde. Man sah sofort, dass ein böses Gewitter im Anzuge sei und traf die notwendigen Vorkehrungen. Mit den ersten Blitzschlägen setzte auch ein tüchtiger Regenschauer ein; aber bald begann ein Sturm von solcher Heftigkeit und ein Hagelwetter, wie selbst die ältesten Leute ein solches noch nicht erlebt haben. Das furchtbare Unwetter, bei dem wohl allen Hören und Sehen verging - verschiedene ältere Leute sollen allen Ernstes an den bevorstehenden Untergang der Welt gedacht haben - dauerte etwa 10 bis 12 Minuten. Aber welch ein entsetzlicher Anblick bot sich uns nachher: Von der Gewalt des Sturmes waren eine Unmenge großer Bäume entwurzelt und wie Strohhalme zur Seite geworfen.
Allein die herrliche Linden-Allee von Bad Essen zum Essener Pflegehause, eine Zierde des Ortes, hat 30 schöne Stämme, darunter treffliche Baumriesen, eingebüßt. Arg hat der Sturm vor allem unter den Linden am Kirchplatze, beim Pflegehause und bei der Leuchtenburg gewütet; vorn in Essen sind auch einzelne Bäume auf die Hausdächer gefallen und haben diese arg beschädigt. Was der Sturm aber nicht vernichtete, das wurde vom Hagelschlag, dessen einzelne Schlossen zumeist Nußgröße, teilweise aber auch Hühnerei- und sogar Enteneigröße aufwiesen, zerstört. Die Garten- und Feldfrüchte sind vollständig vernichtet. Die Fluren bieten ein trostloses Bild. Mit welcher Wucht der Hagelschlag niederging, das ersieht man an vielen Bäumen, Büschen und Sträuchern, die kein einziges Blatt mehr tragen und nur noch ihren Stamm und nackte, abgeschälte Äste wie ein Gerippe aufweisen.
Daß vom Hagelwetter auch Tausende von Fensterscheiben zerschlagen sind, versteht sich von selbst; allein beim Volksschulgebäude in Bad Essen zählt man - abgesehen von den Kellerfenstern - 72 zerschmetterte Scheiben, weshalb denn auch der Unterricht ausgesetzt werden mußte. Aber auch viele Dachziegel sind vom Hagel glatt durchschlagen und fast alle Leute hatten Not, sich des in die Häuser eindringenden Wassers zu erwehren. Kein einziges Haus in dem vom Unwetter betroffenen Gebiete ist verschont geblieben; am meisten werden die Gärtnereien und die Gewächshäuser in Mitleidenschaft gezogen sein. Ganz besonders schlimm muß das Unwetter in der Gegend von Hüsede, Linne und Rabber gewesen sein. Auf der Landstraße von Barkhausen nach Krietenstein war die Straße durch 17 umgewehte Pappeln gesperrt. In Rabber ist ein Neubau (Scheune) des Konditors Dreß am Bahnhofe zerstört, indem das vor einigen Tagen aufgesetzte Gesparre mitsamt einer Seitenmauer des Baues umgerissen ist; auch sind Dreß fast sämtliche Fensterscheiben einschl. des großen Schaufensters zerschlagen.
In Linne hat der Hagel beim Trellerschen Kolonatsgebäude wohl 150 Fensterscheiben vernichtet und etwa 3000 Dachziegel zerstört und abgedeckt. Bei Kalbsiek lag 4 Stunden nach dem Unwetter der Hagel noch 80 cm hoch in dem Straßengraben. Alle Felder liegen platt. Der durch das Unwetter angerichtete Schaden wird auf viele Hunderttausende geschätzt, kann aber derzeit noch nicht annähernd angegeben werden, weil man den Umfang des heimgesuchten Gebietes noch nicht kennt - und da wir durch Zerstörung sämtlicher Fernsprech- und Telegraphenleitungen von der Außenwelt abgeschnitten sind - auch nicht erfahren können. Das Unwetter scheint schon westlich von Osnabrück seinen Anfang genommen und sich längs durch den Kreis Wittlage an der Gebirgskette entlang bis in den Kreis Lübbecke erstreckt zu haben, wo es bei Blasheim sein Ende erreicht haben soll. Im Norden hat die Wittlager Kreisbahn oder die Osnabrück-Mindener Chaussee die Grenze gebildet, im Süden scheinen die Gebirgsorte Kreninghausen, Essenerberg, Rattinghausen, Barkhausen, Büscherheide, Börninghausen usw. noch mit gestreift worden zu sein. Ueberall waren alsbald fleißige Hände beschäftigt, die Fahrstraßen, die durch viele umgestürzte Bäume gesperrt waren, wieder frei zu legen, was bis zum Abend erreicht wurde. Morgen früh reist unser Herr Landrat nach Osnabrück, um dem Herrn Regierungspräsidenten persönlich Vortrag zu halten und mit ihm zu überlegen, welche Maßregeln zur Abwehr der dringenden Not zu ergreifen sind.