Im „Grünen Heinrich“ beschrieb Gottfried Keller ein langes hohes Kirchendach, das mächtig über alle Giebel emporragte … „Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermessliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen. Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Thürmchen, in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Thürmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte.“
Das lange, hohe Kirchendach gehört dem zwischen 1308 und 1350 erbauten Predigerchor. Etwa 100 Jahre später erhielt er das Türmchen als Dachreiter. Seine Glocke trägt das Datum von 1451 und ist die älteste Glocke in Zürich, die noch an ihrem angestammten Platz hängt. Im Laufe der Jahrhunderte verlor das T(h)ürmchen nicht nur sein „h“, sondern auch seinen Halt. Die filigrane Holzkonstruktion – zu damaliger Zeit ein Meisterwerk der Zimmermannskunst – machte das Türmchen anfällig für Wind und Wetter. Dreimal stürzte es vom Dach, ein weiteres Mal die Spitze mit Hahn und Kugel. Zuletzt war es wieder so instabil, dass die Glocke nicht geschlagen werden konnte, weil Vibrationen zu vermeiden waren. Es bestand die Gefahr, dass der Turm ganz oder in Teilen in den Hof fallen könnte.
Die Umnutzung einer Kirche mangels Bedarf ist nicht nur eine heutige Erscheinung. Die Predigerkirche wurde schon im 16. Jahrhundert mit der Auflösung des Dominikanerklosters überflüssig. Man nutzte sie zunächst als Trotte. Dann wurden Schiff und Chor der Kirche mit einer Mauer unterteilt. Das Langschiff wurde später zu der heute bekannten romanischen Kirche ausgebaut, erst im Jahr 1900 erhielt sie einen eigenen Turm. Der Predigerchor diente nach dem Einziehen von Zwischenböden zur Lagerung von Holz- und Kornvorräten sowie als Büchermagazin. Ab 1801 beherbergte er die Kantons- und Universitätsbibliothek, seit 1914 gehört der Predigerchor zur damals gebauten Zentralbibliothek und ist heute Sitz der Musikabteilung. Geschichte, Nutzung und Architektur machen den Predigerchor zu einem außergewöhnlichen Objekt.
Erhalten oder erneuern
2010 wurden im Auftrag der Zentralbibliothek unter der Ägide der Denkmalpflege die Statik und Substanz des Dachreiters gründlich untersucht und die Sanierungsmaßnahmen festgelegt. Sie umfassen eine statische Sicherung des Turms und den Ersatz des Schindelschirms. Außerdem wurde der Ersatz bzw. die Instandsetzung der Metallbauteile samt Turmspitze mit Wetterfahne, Giebelfeld und Bekleidungen der Glockenstube beschlossen. Zu Restaurationsarbeiten historischer Objekte gehört immer die Abwägung, ob sich etwas erhalten und instand setzen lässt oder ob es rekonstruiert werden muss. Denkmalpfleger sind bestrebt, möglichst viel von der originalen Substanz zu erhalten, sonst gäbe es bald nur noch Kopien. Doch das bedingt zum Teil aufwendige Arbeiten. Die Teile müssen demontiert, gereinigt, von Farbaufträgen befreit, ausgebeult, nachgeformt, ausgebessert, gelötet, ergänzt oder verstärkt werden. Ist die Zerstörung zu weit fortgeschritten, müssen Teile rekonstruiert werden. Nur selten stehen geeignete Vorlagen oder Pläne zur Verfügung, schon gar nicht bei einem über 560 Jahre alten Objekt. Zudem haben die früheren Abstürze und diverse Restaurationen unterschiedliche Spuren hinterlassen. Bei der Suche nach der ursprünglichen Gestaltung und Farbigkeit wurden mit Sondierschnitten durch relevante Bauteile mehrere Farbschichten freigelegt.
Glockenstube und Balkenabdeckung
Das sechseckige Türmchen ragt immerhin 21,70 m über den Dachfirst des Predigerchors hinaus. Es lässt sich in vier Abschnitte einteilen:
Zuunterst das Dachreitergerüst, das den Turm im Dachstuhl des Predigerchors verankert. (Dieses Dach ist das älteste in Zürich. Die Bäume für den Dachstuhl wurden 1327 und 1370 gefällt.) Über dem Turmschaft hängt das Glöcklein in einer offenen Glockenstube, von sechs Giebeln und einem Balustradengeländer eingefasst. Darauf sitzt der mit Holzschindeln belegte Spitzhelm. Die Turmspitze besteht aus dem Turmspitzblech mit zwei Knaufkugeln und obendrauf dem Hahn als Wetterfahne. Bei der Sanierung wurde zunächst der Turmschaft instand gesetzt und verstärkt. Im Bereich der Glockenstube waren die gesamte Tragkonstruktion und die Balustradenabdeckung vollständig mit Blechen umschlossen. Nach dem Entfernen der Bekleidungen ließ sich der Bedarf der Sanierungen erkennen. Die Holzteile wurden gereinigt und gebürstet, schadhafte Bereiche ersetzt oder verstärkt. Zudem erhielt der Turm neben den bereits vorhandenen Spannseilen eine zusätzliche statische Sicherung. Von einem Stahlrahmen unterhalb der Glockenstube führen Ankerstangen hinauf zum Turmhelm, um ihn gegen Winddruck zu stabilisieren. Die exakte Führung der Ankerstangen ließ sich erst vor Ort nach Demontage des Bodens und des Dachreiterhutes bestimmen. Der Boden der Glockenstube mit dem Dacheinstieg wurde komplett erneuert.
Nach der Holzsanierung und den Einbauten wurden Boden, Sockel und Streben der Glockenstube wieder mit blanken und verzinnten Kupferblechen umkleidet. Eine Wiederverwendung der alten Metallbauteile war nicht möglich, weil sie dem teilweise geänderten Unterbau exakt angepasst werden mussten. So war die Bekleidung echte Handarbeit, bei der die Bleche vor Ort zugeschnitten, profiliert und gefalzt wurden. Zahlreiche Verbindungen und Übergänge wurden genietet oder verlötet. Für den Glockenstuhl und -boden wurden blanke Kupferbleche verwendet, für die Umkleidung der tragenden und nach außen sichtbaren Konstruktion kam verzinntes Kupfer zum Einsatz, das dem Original entsprechend mit grauer Ölfarbe überstrichen wurde.
Giebelfeld mit vergoldeten Spitzen und Speiern
Die Glockenstube wird von sechs offenen Giebeln umschlossen. Sie sind mit grau lackiertem Kupfer bekleidet. Regenwasser wird von Ziegelanschlussblechen und Wasserfängen über Wasserspeier abgeleitet. Alle Knäufe und Speier wurden zuerst am Turm fotografiert, dann demontiert und in der Werkstatt untersucht. Um Schäden der Holzkonstruktion auszubessern, wurden die Bekleidungen der Giebel abgenommen. Die Stirnbleche sind rund 500 Jahre alt. Zu ihrer Zeit wurde Kupfer noch nicht gewalzt, sondern mit dem Hammer flachgeschlagen. Deshalb sind sie nicht ganz gleichmäßig, sondern variieren in der Dicke zwischen 0,5 und 2 mm. Um die großen Flächen abzudecken, wurden mehrere Kupferplatten zusammengenietet. Trotz ihres Alters waren die Stirnbleche noch intakt, sie wurden gereinigt, Risse und Schadstellen wurden ausgebessert.
In wesentlich schlechterem Zustand befanden sich die Auslauf- und Simsbleche. Auch die Knaufe und die Speier erforderten größere Reparaturen. Die Knaufe der sechs Giebel waren Industrieprodukte, deren Bleche an einigen Stellen zu dünn ausgetrieben und deren Falze teilweise gerissen waren. Sie wurden neu angefertigt. Die Bauteile wurden lackiert, die Knaufe vergoldet und dann komplett auf die Giebel aufgesetzt. Den Drachenkopf-Wasserspeiern waren im Laufe der Zeit Zungen und Ohren weggebrochen und auch an deren Befestigungen gab es Schäden. Alle Teile wurden gereinigt, ausgebessert, angestrichen und teilvergoldet.
Goldene Spitze mit Knauf und Hahn
Die Turmspitze endet mit einem konisch geformten Turmspitzblech. Es führt durch die untere bis zur großen aufgesetzten Knaufkugel. Sie war zwar stark verwittert, aber das 2-mm-Kupfer ließ sich auffrischen. Die Kugel wurde geöffnet – die darin enthaltenen Urkunden von früheren Sanierungen (1881 und 1974) übernahm die Denkmalpflege. Aus der Knaufkugel ragt die Metallstange mit dem Hahn als Wetterfahne. Eine Blechabdeckung schützt und formt den Übergang zur Kugel. Ein Büchsenlager sorgt dafür, dass sich der Hahn in den Wind stellen kann.
Das Turmspitzblech wurde erneuert, ebenso die Abdeckungen und die Blitzschutzanlage. Alle anderen Teile (Knaufe, Stange, Lager und Hahn) wurden gereinigt, ausgebeult, aufgefrischt und neu gestrichen oder vergoldet. In den Spitzknauf legte die Zentralbibliothek ein neues Dokument, das die Arbeiten des Jahres 2012 belegt. Allerdings sind alle Beteiligten guten Mutes, dass dieses Dokument frühestens in 50 Jahren wieder ans Licht kommen wird.
Vergolden will gelernt sein
Spengler und Klempner können Metallbauteilen mit Blattvergoldungen ein edles Aussehen verleihen. Das Erlernen entsprechender Techniken ist einfacher als viele glauben mögen. Voraussetzung ist jedoch, dass dazu erforderliche Tricks und Kniffe von einem erfahrenen Vergolder vermittelt werden. Eigens dazu bietet BAUMETALL im Rahmen der neuen Workshop-Reihe im Museum einen Vergolderkurs an. Der eintägige Lehrgang vermittelt das Vergolden mit Blattgold. Die Teilnehmer befassen sich dabei intensiv mit der Technik der matten und glänzenden Ölvergoldung auf metallischen Untergründen. In einer theoretischen Einführung werden Materialien, Klebstoffe, Werkzeuge und Vorbereitung unterschiedlicher Untergründe besprochen. Anschließend führen sie unter professioneller Anleitung praktische Übungen auf vorbereiteten Untergründen und Kupferkugeln durch. Der angebotene Workshop stößt auf derart großes Interesse, dass der erste Termin (6. 2. 2015) in kürzester Zeit ausgebucht war. BAUMETALL bietet daher am 7. Februar 2015 einen Zusatztermin an!
Beat Conrad
ist Mitinhaber und Geschäftsleitungsmitglied der Zürcher Bauspenglerei Scherrer Metec AG.
Bautafel
Projekt: Instandsetzung Dachreiter Predigerchor, Zürich
Bauherr: Zentralbibliothek Zürich
Denkmalpflege: Amt für Städtebau, Zürich
Architektur: Henauer Gugler AG, Zürich
Fachbetrieb: Scherrer Metec AG, Zürich
Fotos: Andreas Weil