Über die Abgrenzung von Handwerk zu Kunst und Kultur ist schon viel Tiefsinniges gedacht und geschrieben worden. Man kann diesen ganzen theoretischen Ballast aber auch beiseitelegen und die Sphären unkompliziert miteinander verbinden – so wie es Flaschnermeister Wolfgang Huber aus Kißlegg im Allgäu bei seinem Projekt eines kombinierten Werkstatt- und Ausstellungsgebäudes getan hat.
Er hatte vor einigen Jahren die einmalige Gelegenheit, die Ausstattung einer seit 1959 unberührten, aber komplett erhaltenen Flaschnerwerkstatt zu übernehmen. Die inzwischen fast schon historisch zu nennenden Werkzeuge und Materialien gaben den Anstoß für die Einrichtung einer eigenen Werkstatt für Ornamentbau und Denkmalpflege, die Wolfgang Hubers bisherige Arbeitsräume für moderne Dach- und Fassadenbekleidungen ergänzt. Diese zweite Werkstatt befindet sich im Sockelgeschoss eines früheren Stallgebäudes von etwa 1900, das mit einer weiteren, betont modern gehaltenen Etage aufgestockt wurde. Dieses Obergeschoss nutzt der Flaschnermeister für Kunstausstellungen, aber auch für kulturelle Events, Seminare oder Kollegentreffs innerhalb der Branche. Der Traum von Wolfgang Huber ist, vor allem junge Menschen für das Handwerk zu begeistern und Öffentlichkeitsarbeit für den Beruf des Flaschners zu betreiben.
Holzständerbau auf Mauerwerk
Für die neue Nutzung mussten die Fundamente und Mauern des alten Stalls ertüchtigt werden, wobei mit einem neuen Ringanker auch eine neue Nutzhöhe von 2,90 m entstand. Den oberen Abschluss des alten Gebäudeteils bildet eine Holzbalkendecke, die wegen des Publikumsverkehrs im Obergeschoss in F 90 ausgeführt werden musste. Die Wände des Obergeschosses entstanden in Holzständerbauweise mit 24 cm Mineralwolle-Dämmung sowie OSB-Platten als innere und DWD-Platten als äußere Beplankung. Leimholzbinder mit 80 cm Höhe überspannen die etwa 11 × 19 m große Grundfläche ohne Stützen und gaben so den Freiraum für den großen Ausstellungsbereich, von dem lediglich ein Büro und ein Besprechungsraum abgeteilt wurden. In das gedämmte und mit einer Kunststoffdachbahn abgedichtete Dach sind für eine optimale Ausleuchtung der Ausstellung etwa 10° geneigte Lichtbänder integriert.
Prägend für die Außenansicht ist das Zusammenspiel des historischen Mauerwerks mit der spannenden Fassade des modernen Obergeschosses, die Wolfgang Huber komplett mit handwerklich selbst gefertigten Teilen aus Rheinzink-Titanzink in der Oberfläche pre-Patina schiefergrau hergestellt hat. Die Vorder- und beide Längsseiten zeigen eine Rautendeckung, während die Rückseite mit den beiden verglasten Arbeitsräumen und der zusätzlichen Fluchttreppe mit einer Stulpdeckung bekleidet wurde.
Plastisch in jeder Blickrichtung
Die Besonderheit der Rauten gegenüber ebenen Schindeln ist das plastische Verlegebild. Die jeweils obere Raute greift mit einer Rückkantung in die Vorkantung der Reihe darunter, sodass eine markante Textur entsteht. Dieses klassische Prinzip entwickelte der Flaschner für die vertikale Verbindung der Rauten individuell weiter: An den Seiten greifen die Rauten in Hutprofile ein, die auf der Lattung befestigt wurden und für eine regensichere Ausführung der senkrechten Fugen sorgen. „Die traditionelle Rautendeckung hat sonst zwei verschiedene Ansichten“, erklärt Wolfgang Huber seine Idee. „In der einen Richtung schauen Sie gegen die Falze und sehen die Struktur. Mit den Falzen geblickt, ergibt sich jedoch eine geschlossene, eben erscheinende Fläche. Hier liegen die Rautenreihen aneinander.“ Tatsächlich erzeugen die spezielle Verlegeart und der Halbversatz aus jedem Blickwinkel eine anders variierte, aber immer dreidimensional geprägte Ansicht, die mit dem unterschiedlichen Sonnenstand den jeweiligen Schattenwurf inszeniert.
Insgesamt 2500 Rauten aus Rheinzink mit einer Deckhöhe von 380 mm und 500 mm Breite hat Wolfgang Huber hergestellt und verarbeitet, die Verlegung außerdem an einer Musterwand vorab getestet und die vierte Seite des Gebäudes mit ebenfalls individuell gekanteten Paneelen bekleidet. Was die Frage aufwirft: Ist diese Fassade noch Bauhandwerk oder schon Kunst? Oder anders formuliert: Ist ein solches Unikat nur bezahlbar, wenn der Handwerker es für sich selbst baut? „Es ist sicher hochwertige Handwerksarbeit, was sich natürlich auch in den Kosten ausdrückt“, erklärt Wolfgang Huber. „Aber bei entsprechenden Projekten ist der Aufwand durchaus vertretbar und ich führe solche oder ähnliche Fassaden auch als Auftragsarbeit aus.“ Wie fließend der Übergang zwischen Kunst und Handwerk sein kann und wie entspannt Wolfgang Huber damit umgeht, zeigt sich auch im Inneren der neuen Etage, wo sich die Fassade an denTüren eines großen Wandschranks im direkten vis-a-vis zu den Gemälden und Zeichnungen wiederholt und damit praktisch selbst zu einem Ausstellungsstück wird.
Bautafel
Objekt: Werkstatt und Ausstellung Kißlegg
Bauherr, Planer und Fachbetrieb: Flaschnerei Wolfgang Huber, Kißlegg
Fassade: 285 m²4,4 t, Großrautensystem2500 TitanzinkrautenDeckmaß 380 x 500 mm
Material: Rheinzink-pre-Patina schiefergrau