Ein Spengler ohne Meterstab ist wie ein Drachentöter ohne Schwert. Beide wären den Gefahren ihrer Arbeitswelt schutzlos ausgeliefert. Stimmt doch! Oder etwa nicht? Der brandneue BAUMETALL-Workshop ‚Zollstock ade‘ will das genaue Gegenteil beweisen – stellt verschiedene digitale Aufmaßtechniken vor und ermöglicht obendrein das Erproben infrage kommender Systeme in der Praxis. Dazu führen gleich mehrere erfahrene Referenten in die Welt der Lasermesstechnik und Smartphone-Apps ein. Außerdem wird den teilnehmenden Fachleuten versprochen, dass sie Tipps und Tricks für die Anwendung im eigenen Betrieb mit nach Hause nehmen werden. Kann das sein? Mein verantwortungsvolles Aufgabengebiet als Museumsreferentin bringt es mit sich, derartige Ankündigungen stets mit kritischem Blick zu prüfen, bevor ich ihnen Glauben schenke. Also halte ich es wie die Kupferstatue des Heiligen Georgs und verfolge das Geschehen schweigend, aber aufmerksam …“
Workshop-Vorbereitung
Was Museumsreferentin Annika Roth gemeinsam mit Drachentöter Georg am Vorabend der zweitägigen Workshopveranstaltung erlebt, hat es in dieser Form noch nie gegeben. Zumindest nicht im Europäischen Klempner- und Kupferschmiede-Museum: Das Referententeam der Gottlieb Nestle GmbH befördert zahlreiche Gerätschaften in den Innenbereich des Museums, klappt Laptops auf, baut Stative auf und bereichert die in Europa wohl einmalige Sammlung alter Maschinen, Werkzeuge und Dokumente aus dem Klempner- und Kupferschmiede-Handwerk mit einem Sammelsurium verschiedener Messgeräte. Manche sehen aus wie Mikrofone. Andere erinnern, auf knallgelben Dreibeinen stehend, an klassische Messgeräte von Vermessungsingenieuren. Im nächsten Schritt werden gefühlt ein Dutzend weiße Etiketten mit fadenkreuzähnlichen Symbolen an verschiedenen Punkten des Museums angebracht. Die Säulen der Wendeltreppen werden ebenso beklebt wie Fensterfronten und geneigte Wandflächen – etwa am Kegelbau unter dem Lötlampenhimmel. Anschließend lustwandelt einer der Experten mit einem Gerät in Form einer Minilitfaßsäule durch das Museum. Wie und nach welchen Kriterien er seinen Rundgang fortsetzt, bleibt für Drachentöter Georg sowie für Annika Roth vorerst ein Geheimnis.
Fulminanter Workshopstart
Am darauffolgenden Vormittag des 23. Mai 2024 treffen sich zahlreiche Workshopteilnehmer und Experten für digitale Maßerfassung in Karlstadt. Erwartungsvoll betreten sie das futuristische Museumsgebäude – viele von ihnen das erste Mal. Ein Vater kommt mit seinem Sohn und dem gemeinsamen Ziel, die firmeninterne Planung zum Aufbau von Arbeitsschutzgerüsten zu optimieren. Eine Hand voll Zimmerleute sucht nach neuen Möglichkeiten zur Maßerfassung beim Holztreppenbau. Ein Dachdecker möchte sein Aufmaßprogramm weiterentwickeln und zwei Spengler suchen nach neuen Wegen beim Messen und Vorbereiten von Metallprofilen für Dachgauben oder Metallbedachungen.
BAUMETALL-Chefredakteur Andreas Buck eröffnet die Veranstaltung gemeinsam mit Workshop-Initiator Rainer Löber. Es folgt eine Museumsführung – vorbei am Ausstellungsbereich historischer Wetterfahnen oder Gaubenbekleidungen – hin zum Modell der vergoldeten Krone der Staatskanzlei in Dresden. „Die Herstellung von Bauornamentik erfordert seit jeher höchste Handwerkskunst“, erklärt der Fachjournalist und Klempnermeister: „Ornamentspengler ist freilich kein eigener Ausbildungsberuf. Vielmehr handelt es sich um eine Spezialisierung auf Grundlage der Klempnerausbildung. Der Ornamentspengler rekonstruiert und formt Zier- und Schmuckelemente aus Kupfer und Zink. Dabei nutzt er historische Zeichnungen oder – wenn noch vorhanden – die originalen Bauelemente als Muster.“ Weiter geht’s. Das Funktionsprinzip von Lötlampen erklärt der Chefredakteur ebenso wie die Arbeitstechnik des Schneidens oder die des Bördelns. Nur beim Messen wird er unsicher, denn für diesen Fachbereich sind hoch spezialisierte Experten anwesend.
Zollstock gegen BLK3D
Einer von ihnen ist Rainer Löber von RL Dachsoftware. Der Zimmerer und Diplomholzwirt verfügt über einen enormen Erfahrungsschatz rund um die Entwicklung und den Einsatz von Computerprogrammen im Dachhandwerk. Er kennt sich mit diversen Systemen zur Kalkulation, Planung oder digitalen Maßerfassung bestens aus. Den Teilnehmern stellt er die Funktionsweise des Leica BLK3D vor. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das einem Android-Handy zwar ähnlich sieht, aber viel mehr kann. Der BLK3D kombiniert eine kalibrierte Stereokamera, Messsensoren, Software und integrierte Kantenerkennungsfunktionen, um Messungen im Bild mit professioneller Genauigkeit durchzuführen. Jedes aufgenommene Bild ist ein vollständiges und präzises 3D-Messprotokoll. Zunächst werden, wie beim Fotografieren, je nach Entfernung eine bis vier Aufnahmen gemacht. Referenzmaße sind dabei nicht erforderlich. Die digital erfassten Maße sind überaus passgenau. Die Teilnehmer überzeugen sich davon im Praxistest, doch damit nicht genug: Der BLK3D
Anwendungsbeispiele sind der Balkon im 3. Stock, Durchdringungen in Fassaden, Sparrenlängen oder Fensterlaibungen an Gauben. Auch schlecht vor Ort messbare Bauteile können per BLK3D definiert werden. Ein weiterer Vorteil ist das nachträgliche Bestimmen von Einzelmaßen, deren Erfassung auf der Baustelle eventuell vergessen wurde. „Allerdings gibt es Situationen, die den BLK3D an seine Grenzen führen. Wie es dennoch gelingt, komplexe Dachformen oder Fassaden digital zu messen, veranschaulichen die nachfolgenden Referenten“, sagt Rainer Löber und fordert Christian Rummel auf, eine spannende Alternative vorzustellen.
Ausmessen mit der Handy-App
Klingt wie Zukunftsmusik – ist aber real: das Ausmessen mit dem Handy, und zwar kinderleicht und quasi im Vorbeigehen. Zimmermeister Christian Rummel stellt entsprechende Ergebnisse vor und erklärt dabei, wie es funktioniert: „Dot3D ist ein Tool für professionelles 3D-Laserscannen. Es ermöglicht das Erstellen von 3D-Scans mit dem iPhone 12 Pro oder neueren Modellen sowie dem iPad Pro (ab 2020). Die Anwendung nutzt dazu die Lidar-Technologie entsprechender Geräte und erzeugt genaue und zuverlässige 3D-Digitalisierung selbst komplexer Umgebungen. Dabei werden im Vorbeischreiten am auszumessenden Bauteil genaue 3D-Netze erzeugt und anschließend mit wenigen Klicks am Computer weiterverarbeitet.“ Sogar ganze Gebäude können gescannt werden. Genau das hat Christian Rummel gemacht und das komplexe Museumsgebäude gescannt: „Morgen werden wir die Messungen aller hier vorgestellten Systeme am Bildschirm übereinanderlegen und vergleichen. Darauf freue ich mich sehr.“
Tachymeter für Dach- und Fassadenhandwerker
Die Gottlieb Nestle GmbH steht für Innovation und Qualität. Das Sortiment des Hersteller- und Handelsunternehmens für Vermessungsgeräte und Zubehör reicht von einfachen, klassischen Messgeräten bis hin zu hochwertigen GPS-Vermessungsprodukten. So weit die Werbung. Dann geht’s ans Eingemachte: Alexander Schmid, Volker Peschel und Axel Sombetzki vom Nestle-Team entführen die Teilnehmer in die Welt professioneller Messtechnik. Den Anfang macht Alexander Schmid mit einem Grundlagenexkurs sowie der Kurzpräsentation des BLK360 – einem hochauflösenden Laserscanner von Leica. Das Gerät eröffnet die Möglichkeiten schneller Realitätserfassung. Die so erfassten Ergebnisse ermöglichen effizienteres Arbeiten – beispielsweise beim Scannen von Baustellen oder Detailpunkten. Volker Peschel informiert anschließend über die Tachymeter-Maßerfassung. Axel Sombetzki unterstützt ihn dabei. Erklärt werden Systemvorteile und deren praktische Anwendung.
Let’s speak English: Leica BLK2GO
Software und Service Sales Coordinator Andrea Menghini von GeoMax Positioning präsentiert Ergebnisse, die mit dem leistungsstarken Scanner Leica BLK2GO erfasst wurden, auf Englisch. Der aus Italien angereiste Fachmann zeigt, wie einfach der tragbare Scanner eingesetzt wird, und er verblüfft die Teilnehmer mit fotorealistischen Aufnahmen. Am Bildschirm dreht er das Museum in jede beliebige Position. Er zeigt das Gebäude von außen und von innen. Er bestimmt Maße von Wandabschnitten oder dem Interieur. Er legt horizontale und vertikale Schnitte an und er wandelt die Schnitte in Sekundenschnelle in Architektenpläne um.
Systeme im Überblick
Die Kombination unterschiedlicher Messmethoden ist nicht nur möglich, sondern je nach Anwendungsfall auch sinnvoll. Das von Rainer Löber vorgestellte Ausmessen mit dem Leica BLK3D eignet sich perfekt zur Massenermittlung und liefert dafür sehr gute Ergebnisse. Wird das erzeugte 3D-Bild mit den Ergebnissen einer Tachymeter-Messung oder einer Punktwolke kombiniert, entstehen noch exaktere Messungen. Doch welches der getesteten Systeme ist am besten geeignet? Die Antwort ist – wie kann es anders sein – schwierig: Es kommt auf den Einsatzbereich an. Sollen erfasste Messdaten nach der CAD-Bearbeitung wieder zurück auf die Baustelle und per Laser projiziert werden (Positionen von Bohrlöchern u. Ä.), dann ist die Nutzung eines Tachymeters unausweichlich. Nur dieses Gerät ist in der Lage, 3D-Punkte mit realen XYZ-Koordinaten per Laserpunkt auf der Baustelle anzuzeigen – Fachleute sprechen dann vom Abstecken. Genauer und schneller geht es nicht!
Wesentlich einfacher ist der Vergleich der Ergebnisse. Dazu legt Christian Rummel digital erfasste Museumsgrundrisse übereinander. Die Anwesenden sind ebenso verblüfft wie überrascht. Die Unterschiede sind marginal. Sogar das Scannen mit dem Handy liefert äußerst exakte Ergebnisse. „Natürlich kommt es immer darauf an, wie die Maße weiterverarbeitet werden sollen“, sagt Rainer Löber. Zur herkömmlichen Maßerfassung für Spengler, Dachdecker oder Zimmerer ist z. B. die Kombination von BLK3D und Tachymeter bestens geeignet. Sollen Visualisierung oder komplexe 3D-Modelle erstellt werden, eignen sich Laserscanner.
Zollstock im Wandel der Zeit: Das Fazit
Ein Spengler ohne Meterstab ist wie ein Drachentöter ohne Schwert. Beide wären den Gefahren ihrer Arbeitswelt schutzlos ausgeliefert. Stimmt doch? Nein. Stimmt nicht! Innovative Dach- und Fassadenhandwerker können heute auch ohne Meterstab präzise Messungen vornehmen. Moderne Systeme eröffnen dabei neue Dimensionen der Präzision und Effizienz, denn: Lasermessgeräte und 3D-Scanner revolutionieren die Art und Weise, wie Maße erfasst und verarbeitet werden. Zu betonen ist, dass diese Technologien keine Bedrohung für das traditionelle Handwerk darstellen, sondern vielmehr eine Erweiterung des Werkzeugkastens sind. Sie ermöglichen vielseitige Arbeitsweisen und eröffnen neue Möglichkeiten bei Planung, Kalkulation, Konstruktion, Fertigung und Dokumentation.
Nächster Workshoptermin
Der nächste Workshop für digitale Maßerfassung vermittelt vom 7. bis 8. November 2024 abermals Stärken und Schwächen verschiedener digitaler Aufmaßtechniken in der Praxis. Außerdem sollen erfasste Maße direkt im Anschluss so weiterverarbeitet werden, dass Metallprofile entsprechend gebogen werden können. Die Maßgenauigkeit der im Workshop auf verschiedenen Maschinen hergestellten Profile wird zudem an einem realen Objekt überprüft. „Praxisnäher kann ein Workshop nicht sein“, freut sich Andreas Buck. Er wird den Workshop im ZDB der Gebrüder Spiegel AG (Tägerwilen, Schweiz) gemeinsam mit Rainer Löber und dem Software- und Bendex-Fachmann Luigi Greco leiten.
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