Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Wellblech von den Engländern als leicht zu transportierendes, robustes und kostengünstiges Baumaterial für die britischen Kolonien entwickelt – damals Hightech. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts diente es in England zum Dachdecken. Dort gab es außerdem spezialisierte Hersteller von Fertighäusern oder auch Fertigkirchen. Die Siedler im „Wilden Westen“ der USA und später auch in Australien und Neuseeland nutzten das Material für improvisierte Gebäude (s. Wikipedia). Nachdem Wellblech in der Architektur der 1980er- und 1990er-Jahre auch hierzulande verbreitet eingesetzt worden war, hat es bei uns heute den Ruf, nur für Zweckbauten geeignet zu sein. Designer wagen sich selten daran, steht es doch mehr für Zweckmäßigkeit und niedrige Kosten als für Ästhetik und Stil.
Von der Flugzeugindustrie gelernt
Den Produkt- und Möbeldesignern Rolf Bauche und Reinhard Cramer hat es das schlichte Material angetan. Im Projekt Aero-1946 haben sie – inspiriert vom Wellblecheinsatz im Flugzeugbau – Einrichtungsgegenstände daraus geschaffen. Das technische Wissen schöpfen sie zum Beispiel aus dem Know-how von Junkers, Ideengeberin war insbesondere die alte „Tante Ju“ – ein Flugzeug, das aus Wellblech gefertigt wurde. Seinerzeit war die Herstellung von Wellblech-Flugzeugen High-End-Technik. Überhaupt hat die Flugzeugindustrie eine Vielzahl von wichtigen Innovationen hervorgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben zahlreiche Materialien und Techniken aus der Flugzeugindustrie in die Produktion von Alltagsgegenständen Einzug gehalten – daher der Name Aero-1946. „Damals wurde sehr viel herumexperimentiert“, so Rolf Bauche, der eigentlich Technikhistoriker ist. Und genau das machen die beiden heute auch.
Gute Materialeigenschaften für exklusive Produkte
Sie haben sich zum Ziel gesetzt, konstruktiv und ästhetisch überzeugende Möbel und Leuchten aus dem gemeinhin unterschätzten Material zu gestalten. Denn auch in der Möbelherstellung können die typischen Vorteile von Wellblech genutzt werden: hohe Steifigkeit und Tragfähigkeit auch bei geringer Materialstärke. Damit ergänzen Bauche und Cramer ihr bereits bestehendes Portfolio an Möbeln aus Aluminium, Formsperrholz und Vulkanfiber, einem Material aus Zellulosefasern.
Die neun Wellblech-Arbeiten begannen mit dem Versuch, den Glattblech-Korpus eines Flugzeugschranks mit einer Wellblechfront auszustatten. Dafür kam ein handgefertigtes 0,6-mm-Aluminiumwellprofil zum Einsatz, das innen mit 0,8-mm-Aluminium-Glattblechen ausgesteift wurde. Für die Nietverbindungen wurden überwiegend Vollnieten verwendet. Der Flugzeugoptik getreu erhielten die Fronten gemuldete Türgriffe. Auch für den Flugzeughocker wurde eine Wellblechausführung mit 0,8-mm-Aluminium in Sinuswelle entwickelt. Die Bleche wurden hierfür mit einer Sickenmaschine überformt. Weitere Objekte sind verschiedene Pendel- und Tischleuchten aus Aluminium, die dank des reflektierenden Materials eine besondere Leuchtkraft entfalten. Das Wellblech für die Lampen wurde bombiert, um ihnen zusätzliche Stabilität zu verleihen. Speziell für dieses Projekt haben die Designer eine Rundbiegemaschine zur Bombiermaschine umgebaut. Die Leuchten bestehen aus mehreren Wellblechringen in unterschiedlichen Größen, die durch ein Tragegerüst miteinander verbunden sind. Die rote Lackierung des Tragegerüsts sorgt für einen Farbtupfer zwischen den hell glänzenden Metallprofilen.
Maschinenpark Marke Eigenbau
Im Januar 2017 entstand ein Beistelltisch aus Aluminiumwellblech mit Tischplatte aus Glattblech, der aktuell noch verbessert wird. Hier sind die statischen Eigenschaften der Wellprofile von besonderem Vorteil und durch das Bombieren wird die Konstruktion noch stabiler. Eine große Herausforderung war es, die engen Radien zu biegen, ohne Risse im Material zu riskieren. Um Radien von weniger als 90º zu erreichen, wurde das Material dreimal erhitzt und durch die Maschine gezogen. Die dafür verwendete Maschine hatten die findigen Designer von einer Breite von ursprünglich 1,50 m deutlich verkleinert und die ehemals glatten Walzen durch Profilwalzen ersetzt. Da die verarbeiteten Profile max. 40 cm breit sind, erfüllt diese Maschine ihren Zweck vollauf.
Umgesetzt werden ausschließlich eigene Entwürfe. Alle Teile werden im eigenen Atelier in Handarbeit produziert und montiert, das meiste mit historischen Werkzeugen und Maschinen, die Bauche und Cramer eigens für ihre speziellen Zwecke umgebaut haben. Besonders beeindruckend ist die 500-kg-Presse, die aus einer Fabrik für Dichtungen stammt und für das Prägen von Wellblechen umgebaut wurde. Den Maschinenpark Marke Eigenbau und viele weitere Einblicke in die Werkstatt gibt es zu sehen auf: aero-1946.com/workshop.html
Liebhaberstücke in limitierter Auflage
Die Gegenstände werden in kleinen bis kleinsten Stückzahlen hergestellt und sind folglich wahre Raritäten. Gar ein Einzelstück ist „Flugzeugschrank II“ mit einer alten Fluzeugtür aus den 1940er-Jahren, deren besonderer Charme in der starken Deformation und den Spuren massiver Schäden besteht. Im Design der Schränke, Hocker, Regale und Buchstützen wird die Anlehnung an den Flugzeugbau deutlich sichtbar: Die Materialien sind dünn, leicht, aber stabil. Die meisten Stücke weisen zudem sogenannte „Erleichterungsöffnungen“ auf, die – ebenso wie die Nietverbindungen – charakteristisch für die Flugzeugkonstruktion sind. Diese Öffnungen werden mithilfe von Eigenbau-Lochstanzen ins Material gestanzt. In den Buchstützen und manchen Aviation Hockern wurden auch tatsächlich kleine Reststücke von Flugzeug- und Hubschrauberblechen (inklusive Farbe!) recycelt, die somit in einem zweiten Leben einen Platz in einem Büro oder Haushalt finden. Und nicht nur in privaten Kreisen finden die ausgefallenen Designermöbel Liebhaber: Der Flugzeughocker wurde 2013 für den Staatspreis NRW nominiert.
Alle Projekte im Rahmen von Aero-1946 finden Sie auf www.houzz.de/projects/users/aero_1946 .